Michael Hewel
Haus zu verkaufen
10 ereignislose Stories

EPUB: coming soon

Leben in 3 Worten:

Haus
zu
verkaufen

 

I never day-dreamed
Hemingway

 

Überprüfte Behauptungen
Tagklinik
Debussy und der Regen
Olinguito
Die Frau am Geländer
72
Hungern
Morden
Der Hang
i wanna go to the park with somebody & just talk


Morden

eine Erzählung von Michael Hewel
aus: Haus zu verkaufen

Jemand muss sterben. Ich habe lange darüber nachgedacht. Jemand muss sterben, dann ist alles perfekt.



Es gibt keine andere Lösung.

Ich habe mir eine Waffe besorgt. Barracuda, 9 mm. Absolut unwiderstehlich, hat die Verkäuferin gesagt.



Ich werde es erfahren.

Ich gehe den Plan in Gedanken durch, bis ich keinen Plan mehr habe. Er wird funktionieren oder auch nicht, ich kann nicht mehr zurück.



Jemanden töten.

Oder die Kraft aufbringen, um etwas zu kämpfen.



Wahrscheinlicher ist töten.

Ich warte auf den Bus, er kommt nicht. Ein Mann beobachtet mich. Er stützt sich mit gestreckten Armen an einem geparkten SUV ab, grinst mich über die Schulter hinweg an. Er macht einen Schritt zurück, tritt mit Wucht in die Wagentür, sofort heult der Alarm los. Der Mann sieht mich aus kleinen, fiesen Augen an, lacht. Er deutet auf mich, als wolle er sagen, hast du gesehen, so macht man das, dreht sich weg und verschwindet. Die hässliche Karre jault immer noch, keinen Schwanz kümmert's.



Ich habe Durst. Ich gehe in einen Laden, nehme ein Wasser, trinke es in der Schlange. Ich bezahle die leere Flasche, werfe sie weg. Als ich wieder nach draußen komme, ist die Haltestelle leer.

Eine Frau steht auf der Straße. Sie ist alt, unförmig, verkrüppelt, nackt. Haut wie ein Sack. Sie hat einen monströsen Kopf, fuchtelt mit langen, dicken Armen, faselt, schreit. Autos umkurven sie, hupen, Fahrer zeigen ihr wütend den Mittelfinger. Sie wirft sich auf die Fahrbahn, breitet die Arme aus wie eine Gestrandete, fickt den Asphalt. Passanten bleiben stehen, lachen, machen Fotos, spenden Applaus.



Ich gehe in den Park.

Ich setze mich auf eine Bank. Jemand hat ein Buch liegen lassen, ich kenne es, ein richtiges Scheißbuch. Trotzdem nehme ich es, blättere. Es ist schmutzig, zerlesen. Viele Anstreichungen. Ich beginne, die angestrichenen Stellen zu lesen.



Jemand muss dieses Buch wirklich gemocht haben.

Ich habe vor zehn Jahren mit dem Schreiben aufgehört. Als Schriftsteller saß ich unveröffentlicht in einer kalten Wohnung und erfand eine Burger-Kette, die mich ernährte.



Manche Dinge funktionieren, manche nicht. Manches ist real, vieles nicht.

Ich schließe die Augen. Ich versuche, mich an den letzten Satz zu erinnern, den ich geschrieben habe. Die Augen zu schließen, ist das schwerste überhaupt. Nach fünf Sekunden mache ich sie wieder auf. Ich sehe den Himmel. Der Himmel sitzt fest, dunstig und kalt.



Irgendwo passiert etwas.

Ich finde ein Haus, das mir geeignet erscheint, eine Bruchbude, ich steige ein. Alles ruhig. Die Rollläden sind halb herunter, es riecht nach alten Menschen. Blumen auf dem Tisch, Porzellan, an den Wänden gerahmte Familienfotos, Kinder, Enkel, noch mehr Enkel. Ich gehe nach oben. Badezimmer, Arbeitszimmer, Schlafzimmer. Die Tür ist angelehnt, ich drücke sie mit der Barracuda auf. Ein Mann und eine Frau sitzen aufrecht im Bett. Sie halten sich an einer grauen Bettdecke fest, starren mich an. Ich starre eine Weile zurück.



- Du musst ein Kissen nehmen, sagt das Kissen, sonst hört man den Schuss.

Ich nehme das Kissen, halte es vor die Mündung.



- Jetzt schieß schon, bevor dir der Arm einschläft, sagt der Mann.
- Das hast du schön gesagt, sagt die Frau.
- Bang, sagt die Barracuda, BANG BANG, viel lauter, als ich erwartet habe.

Ich lausche, nichts rührt sich.



- Wenigstens sind sie nicht alleine gestorben, sagt das Blut, alleine sterben ist immer das schlimmste.

Ich gehe die Straße hinunter, langsam, die Waffe halte ich noch in der Hand. Niemanden stört das, keiner bemerkt mich, ich bin eine Seltenheit, die nicht auffällt, ich scheine unsichtbar.



Das nächste Mal mit Musik, denke ich überschwänglich. Debussy. Ich finde, wenn man einen Mord begeht, gehört schöne Musik unbedingt dazu.

Ich habe Hunger. 5 Euro 45. Beim Vietnamesen gibt es Pho-Suppe und man kann mit VISA bezahlen. Ich schiebe die Barracuda in den Gürtel. Vielleicht war alles umsonst, vielleicht habe ich noch diesen Tag, vielleicht nur eine Stunde. Eine Stunde, immerhin.



Der Laden ist ziemlich voll. Leute essen Garnelensandwich, gefüllten Tofu, Schweinehackbällchen, Rindfleisch auf grünen Bohnen, Ingwerhuhn mit Reisnudeln. Ich setze mich an einen Tisch zu einer Frau und zwei Mädchen, zehn und acht Jahre vielleicht, die Frau telefoniert.

- Ich wusste, dass du gehen wirst, du hässlicher Affe.



Ich stelle mir den Affen vor, wie er sagt

- Hey, Schatz, es ist nicht so, wie du denkst, ich bin kein übler Typ, ich funktioniere, ich zahle Raten, ich gebe und gebe, ich gehe wählen, ich bleibe nichts schuldig. Schau dir den Scheißkerl gegenüber doch an. Willst du, dass ich auch so ende?



Die Frau sieht mich an.

Die Mädchen hören auf, an ihrer Limettenlimonade zu nuckeln, sie glotzen.



- Das Pony ist ausgebrochen, sagt die Frau, wir müssen es suchen.
- Ja, sagt die Ältere, bevor es die Dunkelheit verschluckt.

Sie stehen auf, packen hastig zusammen. Die Kleine hat ihr Stofftier liegen lassen, eine Giraffe.



- Ich weiß, was du denkst, sagt die Giraffe. Aber ich überstehe das. Brenzliche Situationen übersteht man am ehesten, wenn man später darüber berichten will.

An der Tür zögert das Mädchen, kehrt um. Sie schnappt sich die Giraffe, drückt sie fest an ihre Brust.



- Steppenbrand, sagt sie. Alles, was Leben hat, rennt.

Ich will jemanden töten und alle sehen zu.



Unter zivilisierten Umständen hätte ich mit acht Jahren meine Familie ermordet. Ein paar Flamingos wären die nächsten gewesen. Dann die Hackfressen. Freunde, Bekannte, Verwandte, Haustiere, Nachbarn, Lehrer, Fremde. Viele. Aber immer ist etwas dazwischen gekommen. Ich war zu wählerisch, ich konnte mich nicht entscheiden. Womöglich dachte ich sogar, ich halte das aus, ich bin etwas besonderes. Vielleicht hatte ich auch einfach bloß Angst. Ich hätte mal anfangen sollen, der Rest wäre von allein gekommen. Am Ende wäre ich am Ziel gewesen, mein Leben wäre hell erstrahlt.

Fast hätte ich Lust zu schreiben.



Ein Mann kommt mir entgegen. Hände in den Taschen, Kapuze überm Kopf, er kickt eine leere Dose vor sich her. Als er mich erreicht, bleibt er stehen. Er wippt leicht seitlich hin und her, um mir zu zeigen, dass ich nicht an ihm vorbeikomme. Er ballt die Fäuste, grinst mich an. Debussy steht auf seinem Hoodie.

 

- Gib mir einfach, was du hast, sagt er.
- 5 Euro 45, sage ich.
- Das wird nicht reichen.
- In meiner Barracuda sind noch drei Kugeln. Ich kann dir zwei davon geben.
- Heb die für dich selber auf, sagt er. Die tollen Schauspieler in den alten Filmen sind auch alle schon tot.

 



- Clair de lune, sagt das Hoodie und errötet.

Ich gehe zum Fluss. Ich stehe auf der Brücke, sehe in den Fluss. Der Fluss schaut nicht zurück.



Ich könnte nach Hause gehen, Rechnungen zahlen. Ich könnte aufräumen, Fenster putzen, den Briefkasten leeren, Staub saugen, Müll runtertragen. Ich könnte all das tun, was getan werden muss, wozu mir aber der Mumm fehlt. Ich könnte Nachtzüge und Fernverbindungen googeln. Ich könnte eine Reise buchen oder wieder mit dem Schreiben beginnen.

Der prominenteste Ort, den ich kenne, ist die einsame Insel.



Plötzlich fällt er mir wieder ein, mein letzter Satz.

"Am Sonntag essen wir Pelikan."



Ich hatte ihn etwa hundert Mal geschrieben. Einmal auf jeder Seite.

- Wir sind viele, aber immer noch viel zu wenig, sagte der Satz.



Ich fand, so entwickelt sich die Geschichte am besten. In der Leere. Ich schrieb ihn noch weitere hundert Mal. Es war berauschend. Wie im Traum. Es wurde dunkel, es wurde hell. Bilder zerflossen im Licht. Danach schrieb ich nie wieder etwas.

 

- Muss ich mir Sorgen machen, fragt der Pelikan.
- Aber nein, sage ich, mir ist nur langweilig.

 



Schriftsteller masturbieren regelmäßig. Als wären Leben und Schreiben dasselbe.

Ich bin heute morgen aufgestanden, um etwas zu töten. Etwas, was mich davon abhält zu leben. Heute morgen, das ist schon wieder viel zu lange her.



Ein Krähenschwarm streicht über das Ufer. Die Sonne hängt kalt unterm Brückenbogen. Die Krähen schreien: Scheiße, scheiße, scheiße ...

Eine Kugel habe ich noch. Ich muss mir jetzt sehr genau überlegen, was ich damit mache.



Ich werfe die Barracuda in den Fluss.



© Michael Hewel, alle Rechte vorbehalten.